© HHP, Volker Michels, "Badische Zeitung", 2002, GG
[Foto by © Gunther Gottschalk, Offenbach, 13. July 2002]
Interview von Frau Bettina Schulte mit Volker Michels
"Badische Zeitung, Magazin," Samstag, 29. Juni 2002, S.IV


Keiner kennt sich bei Hermann Hesse so gut aus wie er: Volker Michels, seit 33 Jahren Suhrkamp-Lektor und fast ebenso lange mit dem Werk des Schriftstellers betraut. Der Besitzer eines privaten Hesse-Editionsarchivs, das er für seine Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag aufgebaut hat, ist auch Herausgeber der ersten Hesse Gesamtausgabe. Bettina Schulte von der Badischen Zeitung sprach mit ihm.

BZ: Herr Michels, wie viele Hesse-Bücher werden schätzungsweise am Tag verkauft? Wie hoch ist die Gesamtauflage weltweit?

Volker Michels: In den deutschsprachigen Ländern sind es täglich mindestens tausend und das nun schon seit fast dreißig Jahren. Die Regelmäßigkeit dieser Nachfrage erinnert an die von Lebensmitteln und das sind Hesses Bücher wohl auch. Sie vermitteln Lebensqualität und helfen dabei, die Herausforderungen des Alltags auf eine konstruktive Weise zu meistern, jeden neuen Tag als ein Abenteuer und mit Zuversicht zu beginnen. Die Weltauflage beträgt mehr als hundert Millionen, ein vermutlich zu niedriger Schätzwert, da wir ja alle Raubdrucke vor der Zeit der Urheberrechtskonvention nicht überprüfen können.

BZ: Was bedeutet der Autor Hermann Hesse für den Suhrkamp Verlag?

Michels: Hermann Hesse ist für den Suhrkamp Verlag heute, was früher Bertolt Brecht war: einer der wenigen Autoren, die uns finanziell in die Lage versetzen, unabhängig und das wohl lebendigste Podium für zeitgenössische Literatur und zukunftsorientierte Theorie zu bleiben. Denn alle diese Experimente werden von den gut verkäuflichen Autoren ermöglicht.

BZ: Wie kam Hesse, der von S. Fischer verlegt wurde, zu Suhrkamp?

Michels: Peter Suhrkamp, ehemals Verlagsleiter bei S. Fischer — dem wichtigsten belletristischen Verlag Deutschlands vor den beiden Weltkriegen — wurde seit 1936 Hesses Verleger, seit der erzwungenen Emigration der jüdischen Familie Fischer. Es ist Suhrkamp gelungen, bis 1944 den Verlag im Widerstand gegen die Nationalsozialisten über Wasser zu halten. Als Goebbels ihn in Anspielung auf das Hitler-Attentat als „Verlag des 20. Juli“ bezeichnet hatte, kam Suhrkamp ins KZ, das er wie durch ein Wunder überlebte. Als nach Kriegsende die Erben des S. Fischer Verlages aus dem Exil zurückkehrten, wollten sie Peter Suhrkamp ausbooten. Hesse ermutigte ihn, nicht zu resignieren und stattdessen einen eigenen Verlag zu beginnen. Hermann Hesse war Suhrkamps erster Autor und beschaffte über Schweizer Mäzene auch das Startkapital für den seit 1950 existierenden Verlag.

BZ: Wenn Sie sich die Rezeptionsgeschichte von Hesse in Deutschland vor Augen führen: Hat das Interesse am Autor von „Siddhartha“, „Der Steppenwolf“ und „Das Glasperlenspiel“ mit dem Literaturnobelpreis eingesetzt oder erst später? Und ist es heute noch genauso stark?

Michels: Hesse war schon zu seinen Lebzeiten ein viel gelesener Autor, wurde bei uns aber wegen seiner Kritik an der deutschen Politik von Wilhelm II. bis Hitler nie offiziell gefördert. Im Gegenteil. So hat er in den ersten 70 Jahren seines Lebens keinen einzigen deutschen Literaturpreis erhalten. Erst nach dem Nobelpreis 1946 änderte sich das. Dennoch erreichten seine Bücher zu seinen Lebzeiten eine Gesamtauflage von 4 Millionen Exemplaren. Die eigentliche Rezeptionswelle bei uns setzte aber erst zehn Jahre nach seinem Tod in den 70er Jahren ein, als endlich auch sein Werk in Taschenbuchausgaben verbreitet werden konnte. Bis heute sind es mehr als 20 Millionen. Tendenz steigend ...

BZ: Hesse ist vor allem in Japan sehr populär. Wie kommt das?

Michels: Hesse ist ein Anwalt der Selbstbestimmung. In Japan sind die Menschen vom Vorschulalter an uniformiert und auch noch im Berufsleben einem gefährlichen Anpassungs- und Selektionsdruck ausgesetzt. Hesses beliebtestes Buch in Japan ist „Unterm Rad“, gewiss auch deshalb, weil es nirgendwo in der Welt so viele Schülerselbstmorde gibt. Er ist eine Identifikationsfigur für alle, die gegen deren Ursachen aufbegehren. 

BZ: An den amerikanischen Universitäten ist Hesse seit den 60er-, 70er-Jahren im Zuge der Hippie-Bewegung etabliert. Wie erklären Sie sich, dass die akademische Welt in Deutschland nach wie vor einen großen Bogen um den Autor macht?

Michels: Nicht wenige Kritiker hier zu Lande glauben, die Qualität eines poetischen Textes steige mit dem Widerstand, den er der Rezipierbarkeit entgegensetzt. Er sei desto besser, je mehr Deutungen er zulässt. Das Gegenteil ist der Fall. Je unmissverständlicher und einfacher ein Autor komplexe Inhalte darzustellen vermag, desto zeitloser ist sein Werk. Das trifft auch auf Hesse zu. Er schreibt klar und verständlich, hat ein integratives Weltbild und bietet den Literaturwissenschaftlern wenig Gelegenheit zu ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Exegese. Was unsere Germanisten aus ihren Favoriten Kafka, Musil, Broch mehr oder weniger geistreich herausinterpretieren, dieselben Inhalte liegen bei Hesse auf der Hand und sind nicht auf deutende Hebammendienste angewiesen. Sie wollen beherzigt, nicht zerredet werden. Hesse ist leicht zu lesen und schwer zu leben.

BZ: Hesse gilt hier zu Lande bei vielen nicht als wirklich ernst zu nehmender Autor, sondern eher als literarischer Lebensratgeber. Leisten Jubiläumsausstellungen mit einem Titel wie „WeltFlechtWerk“ nicht dieser Vorstellung Vorschub?

Michels: Unser von „Herabsetzungslust and Verneinungskraft“ bestimmter Kulturbetrieb — wie Martin Walser das kürzlich zutreffend formulierte — geht davon aus, dass Bücher, welche hohe Auflagen erzielen, nur Trivialliteratur sein können. Im Fall Hesse oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, in dem von Stefan Zweig, der ähnlich bagatellisiert wird, scheint mir das ein etwas vorschnelles Wunschdenken zu sein. Hesses Werk ist unglaublich vielseitig. Das gilt auch für seine Sprache, die nach Goethe über den reichsten Wortschatz verfügt, wie aus Konkordanzen ermittelt wurde. Außerdem sind fast alle Schriften Protokolle von Lebenskrisen und enthalten Antworten auf existenzielle Fragen. Daraus erkdären sich die vielen Themenbände zur Politik, Psychoanalyse, Religion, Musik, Malerei etc., die .wir in den letzten Jahren auf Grund der großen Nachfrage herausgebracht haben. Im Schweizerischen Landesmuseum gegenüber dem Zürcher Haupthahnhof ist noch bis zum 14. Juli eine große Hesse Ausstellung unter dem Titel „Höllenreise durch mich selbst“ zu sehen. Die ist sehr gut und mit viel Sachkenntnis gemacht, während die Berliner Ausstellung „WeltFlechtWerk“ zwar gut gemeint, aber ebenso verunglückt ist wie ihr Titel. Sie wird dem Niveau und der Komplexität Hermann Hesses nicht gerecht.

BZ: Herr Michels, Sie geben die erste umfassende Gesamtausgabe der Werke Hesses heraus. Elf Bände sind bereits erschienen. Warum kommt diese Ausgabe erst jetzt zu Stande? Was wird Sie Neues bieten? Wird sie zu einer Revision des Hesse Bildes führen?

Michels: Bisher hatten wir alle Hände voll zu tun, die Nachfrage nach all den Brief- und Themeneditionen zu befriedigen. Dazu war eine immense Recherchierarbeit erfordenlich. Auch gab es keinerlel Einbrüche bei der Rezeption aller Hauptwerke. Auf eine Reanimation dieses Autors durch eine Gesamtausgabe waren wir bisher nicht angewiesen. Inzwischen aber ist das Themenspektrum so vielfältig, dass wir endlich auch dem begreiflichen Wunsch nach Überschaubarkeit und Vollständigkeit Rechnung tragen wollen. Die erste Gesamtausgabe wird mit ihren 14000 Seiten doppelt so umfangreich ausfallen wie die bisherige 12-bändige Werkausgabe. Sie enthält erstmals den auch für Forschung and Wissenschaft spannenden Teil seiner sämtlichen politischen und kulturkritischen Schriften, dazu die Tagebücher und alles Autobiographische. Sie zeigt Hesse als einen Dichter, der nicht nur im Ausland sondern auch bei uns mehr Zukunft als Vergangenheit hat. Denn er ist einer der wenigen Autoren seiner Generation, denen es überdies geglückt ist, das Ethische mit dem Ästhetischen zu vereinbaren. Er ist über den Tiefschlägen des militanten 20. Jahrhunderts nicht zum Zyniker und Nihilisten geworden, sondern hat, jenseits aller Ideologien, ein den Eurozentrismus und jeden Nationalismus überwindendes Weltbild entwickelt, das zu beherzigen sich lohnen würde.
 


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with the kind permission of Mr. Michels