© HHP 5/26/01 GG

 
 

© "Neues Deutschland", Feuilleton, Donnerstag 26. April 2001, Nr. 14
 

Der ganze Hermann Hesse

Von

Klaus Bellin



 
 

Es sind schöne Bände geworden. Blaues, leicht flexibles Leinen, goldene Rückenbeschriftung, goldener Namenszug auf den vorderen Deckeln, graues Vorsatzpapier, die Schutzumschläge im matten Weiß. Die Ausgabe hätte Hesse gefallen. Er mochte schlichte, handliche Leinenbände, Bücher, die sich aller Protzerei enthalten, und er wäre vermutlich auch ganz froh gewesen, dass die Broschur der 12-bändigen Kassette, die sein Werk so lange am vollständigsten präsentierte, von einer stabileren Edition abgelöst wird. Nur: Ob’s wirklich sämtliche Werke sein müssen, die man dem Publikum offeriert, mithin auch das Unfertige, Ausgesonderte, das irgendwann Abgetane, hätte er möglicherweise erst nach einiger Überzeugungsarbeit eingesehen.

Hesse war auch in dieser Hinsicht eigensinnig und unbequem. Als S. Fischer ihn 1920 bat, über eine “volkstümliche Auswahl” nachzudenken, fielen ihm nur Gründe ein, die gegen das Unternehmen sprachen. Er musterte, was er bis dahin geschrieben hatte, und fand, dass seine Schriften den hohen Ansprüchen einer solchen Ausgabe nicht genügten. Er begründete seine Ansicht in einem Aufsatz, den er “Vorrede eines Dichters zu seinen ausgewählten Werken” nannte. Mehr als diesen Text, der dann auch in der “Neuen Zürcher Zeitung” veröffentlicht wurde, bekam S. Fischer nicht zu sehen. Erst 1925, nach langem Zögern, ließ sich Hesse erweichen, einer Gesamtausgabe in Einzelbänden zuzustimmen. Sie wurde mit dem “Kurgast” eröffnet und mit jedem neuen Buch in einheitlicher Ausstattung fortgesetzt. Jahrzehnte lang las man die Romane, Erzählungen und Betrachtungen in dieser hehllblaugekleideten, noch von E.R. Weiß gestalteten Edition. Sie wurde, beheimatet nunmehr im Suhrkamp-Verlag, 1965 mit einem Band “Prosa aus dem Nachlaß” komplettiert. Da war Hesse bereits drei Jahre tot.

Und nun kommt, was zur Freude der Leser den meisten singulären Autoren einmal blüht: eine ehrgeizige, anspruchsvolle Ausgabe, die nichts auslässt, nicht die ersten, tastenden Versuche und auch die Entwürfe, Varianten und Fragmente nicht, die in der Schublade blieben. Sie stellt ihre Vorgänger, die geschlossen dargebotenen “Gesammelten Dichtungen” von 1952 (die, um einen siebenten Band erweitert, fünf Jahre später “Gesammelte Schriften” hießen) und die 1970 erstmals publizierte Taschenbuchkassette mit den “Gesammelten Werken in 12 Bänden”, mühelos in den Schatten. So komplett, so vollständig hat’s Hermann Hesse noch nie gegeben. Um ungefähr 7000 Seiten werden die 20 Bände der “Sämtlichen Werke” die bisherigen Sammlungen übertreffen und damit gut und gern den doppelten Umfang erreichen.

Zum ersten Mal führt eine Edition auch zu Hesses Anfängen zurück. Er war gerade zehn Jahre alt, als er sich für die jüngere Schwester ein Märchen ausdachte, eine kleine Geschichte von zwei ungleichen Brüdern, die zuletzt das Trennende üherwinden, erzählt im Ton, der den Grimms abgelauscht war, und eine reichliche Druckseite lang. 15 Jahre später, nun längst dabei, sich literarisch zu profilieren, versuchte er sich an monografischen Erzählungen über Boccaccio und Franz von Assisi. Auftragsarbeiten, die er rasch und ohne große Mühe herunterschrieb, die ihm aber, trotz ihres Erfolges, bald nicht mehr gefielen und deshalb nie wieder aufgelegt wurden. Dazwischen die übrigen Jugendschriften, zur Hälfte erstmals nach den schwer eintzifferbaren Handschriften wiedergegeben: Gedichte, Tagebuchblätter, Betrachtungen, Stimmungsbilder aus Oberitalien, ein “Venezianisches Notizbüchlein”, der 1900 publizierte “Hermann Lauscher”-Roman, ein Stück des 17-Jährigen mit dem Titel “Lebensfahrt”, die Geschichten um den Landstreicher Quorm, aus denen dann der Knulp hervorging. Bekannt ist von alledem fast nichts, denn Hesse hat damals nur wenige Arbeiten veröffentlicht und auch später keinen dieser frühen Texte in eines seiner Bücher aufgenommen.

Noch lag der Weg im Dunkeln. Sicher war nur, schon seit dem 12. Jahr, dass er Dichter werden wollte. Er liebte die Romantiker, Heine und den Klang der Märchen, und er schrieb, auch wenn der lange Tag des Buchhandelsgehilfen in Tübingen zum Schreiben kaum Zeit ließ. Er malte kleine Historienbilder und gab sich melodramatisch, er offenbarte seine geschundene Seele und erzählte von seinen Träumen, von einer unerreichbaren Liebe, von seiner Einsamkeit. Die Blätter seines unveröffentlichten “Buchs der Sehnsucht”, dem er den Titel “Der Dichter” gab, widmete er allen, “die zum Orden der Flüchtigen und Heimatlosen gehören”. Manchmal freilich schrieb er auch, um Geld, etwa für die geplante Italienreise, zu verdienen.

Hier, im ersten Band, kann man die meisten Entdeckungen machen. Hier ist beinahe alles neu und unbekannt. Aber auch die übrigen vier (zum Auftakt vorgelegten) Bände, die in chronologischer Folge das Romanwerk his hin zum “Glasperlenspiel” präsentieren, bringen neben den vertrauten Texten die erhaltenen Frühfassungen und Varianten, Zeugnisse, die Einblick in den Entstehungsprozess eines Buches geben. Dazu hat Herausgeber Volker Michels jeden Band mit einem Nachwort versehen, knappen, fundierten Hinweisen zur Text- und Wirkungsgeschichte, und welcher Hesse-Leser wüsste nicht, wer Volker Michels ist und über welche Qualitäten er verfügt. Er hat mit bewundernswertem Einsatz und Fleiß fast alles ediert, was man bei Suhrkamp (und auch im Insel-Yerlag) von und über Hesse haben kann. Und die Titelliste ist lang. Dass man sich für die “Sämtlichen Werke” keinen profunderen Herausgeber wünschen konnte, liegt auf der Hand. Dass Michels die Aufgabe, noch dazu in so kurzer Zeit, ohne Mitarbeiterstab bewältigt, verdient größten Respekt.

Erstaunlich genug: Die Edition wird, wenn ahles gut geht, Ende 2002 schon komplettiert sein. Im kommenden Herbst sollen erneut fünf Bände, dann mit den Erzählungen, Märchen, Legenden und Gedichten, erscheinen. Die Bände 11 his 15, vorgesehen für Frühjahr 2002, bringen die autobiografischen Schriften, Gedenkblätter, Betrachtungen und politischen Äußerungen, und den Schluss bilden dann, auf fünf Bände verteilt, die Schriften zur Literatur (mit den drei noch ausstehenden Sammlungen “Die Welt im Buch”).


 

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