Hermann Hesses indische Novelle “Siddhartha” habe ich Mitte
der 70er Jahre während meines Studiums in Detmold zum 1. Mal gelesen
- es war eine fabelhafte Geschichte aus einer mir fremden Welt -
mehr nicht. Ein weiteres Mal begegnete mir “Siddhartha” Mitte der
80er Jahre - inzwischen war ich als Kontrabassist im “Westfälischen
Sinfonieorchester” in Recklinghausen tätig, wieder war der Eindruck
eine fabelhafte Geschichte - mehr nicht. Mein 3. “Siddhartha - Erlebnis”
war dann im Frühsommer 1993 nach Abschluß und Aufführung
meiner Kinderoper “Die wundersame Reise nach Esmir” nach einem Buch
von Georg Klusemann - jetzt befand ich mich auf der Suche nach
einem neuen Kompositionsstoff und hatte mir angewöhnt,
Literatur auch unter musikalischen Gesichtspunkten zu lesen. “Siddhartha”
war jetzt plötzlich nicht mehr nur eine fabelhafte Geschichte, sondern
ich begann zu verstehen - vielleicht war es auch eine “Metamorphose”
meines Verhältnisses zu Hermann Hesse. Ich erkannte die Aussage der
Bipolarität in dieser Novelle, überdeutlich wurde der “Selbstbefreiungs-
Selbstverantwortungsinhalt”, der hier beschrieben wurde. Ich empfand
mich plötzlich in großer Übereinstimmung zu diesem
Siddhartha. In dieser meiner 3. “Siddhartha Phase” kam mir spontan während
eines Konzertes des “Westfälischen Sinfonieorchesters” - Leitung:
GMD Walter Gillessen - in der Kölner Philharmonie am 6.6.1993
- wir spielten die Tondichtung “Also sprach Zarathustra” frei
nach Friedrich Nietzsche op. 30 von Richard Strauß - die
Idee, “Siddhartha” zu vertonen. Der Stoff war ja ähnlich wie “Zarathustra”
und natürlich auch unter dem Eindruck dieses Konzertes entschied
ich mich für die Form eines einsätzigen, durchkomponierten
Konzertstückes in 9 Szenen als Tondichtung frei nach Hermann
Hesse. Nur wollte ich “Siddhartha” gleichsam “persönlich auf
die Bühne bitten” und gab ihm eine Stimme, als Soloinstrument
das Violoncello, sein “Umfeld” wurde in das Orchester, in einzelne Instrumente
oder auch in einzelne musikalische Motive gelegt. Dieses von mir sogenannte
“Umfeld” sind 9 Szenen oder Tonbilder, die ich frei aus Hermann Hesses
Novelle für dieses Konzertstück ausgewählt habe.
1.Szene: “Aufbruch”:
Siddhartha verläßt sein Elternhaus auf der Suche nach seiner
Erlösung über das heilige Wort “OM” - auf der Suche nach sich
selbst. Diese Suche wird durch den Ton “CIS” dargestellt, mit dem
das Konzertstück eröffnet wird. Der Ton “CIS” ist als sogenannter
“Planetenton” der Ton der Sonne - hier charakteristisch für
“Erleuchtung”. Dieses “CIS” zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze
Stück.
2. Szene “Bei den Samanas:
Siddhartha wendet sich den Bettelmönchen - den Samanas - zu und
hofft, in ihrer Lehre und Askese sein “OM” zu finden. Allerdings
erkennt er bald, dass das Leben mit den Samanas ihn in eine immer größere
Abhängigkeit in deren Gesetze führt, statt ihm den Weg in die
innere Freiheit zu zeigen. Musikalisch wird dieser Prozeß durch
einen anfänglichen Gleichklang des Violoncellos (=Siddhartha) mit
dem Orchester (=Samanas) dargestellt, bis sich das Cello im freien Metrum
vom gleichbleibenden Metrum des Orchesters löst.
3.Szene “Erwachen”:
Hier wendet sich Siddhartha von den Samanas ab und wandert in die Stadt.
Musikalisch erkennbar durch 4 Takte Orchester, die anschließend vom
Cello beantwortet werden und gemeinsam überleiten in die
4.Szene “Kamala”:
In der Stadt findet er Aufnahme bei der Kurtisane Kamala, die ihn in
alle Belange des Liebeslebens einweist - hier charakterisiert durch das
italienische Volkslied “Lu golio de`na figliola”. Der Grundton dieser
Szene ist der Planetenton der Venus, das “A” für: “Liebe,
Schönheit, Harmonie”. Kamala öffnet ihm auch den Weg zu einem
reichen Kaufmann.
5.Szene “Bei den Menschen”:
Bei den Menschen lernt er den Handel und steigt zu einem angesehenen
Geschäftsmann auf. Die musikalische Formel dieser Szene ist der
Planetenton der Erde, das “G” für “Dynamik, Kraft, Realitätssinn.
Siddhtartha verläßt unter diesem Einfluß immer mehr
die Tugenden der Samanas - Askese und Disziplin - und gerät
auf den Pfad der Verschwendung und des Glücksspiels, bis ihn
nach einer durchzechten Nacht überdeutlich
6. Szene "Sansara":
das "CIS" für das Wort "OM" an sein eigentliches Suchen nach seinem
"ICH" erinnert und er sein Sansara (ewiger Kreislauf der Wiedergeburt,
wenn man nicht den Weg zum "Göttlichen “OM" findet) in einem
wilden erlebten Erwachen erkennt. Er verläßt in den frühen
Morgenstunden die Stadt, seine Geschäfte und Kamala und wandert
auf das Land.
7. Szene "Am Flusse":
den er vor Jahren als Samana auf dem Weg zu den Menschen überquert
hat, legt er sich erschöpft nieder. Im Traum erhält er eine Vorahnung
seines "OM" - musikalisch durch die thematische Vorwegnahme der Finalszene
"OM" in "CIS-DUR" dargestellt. Sein bisheriges Leben zieht an ihm
vorbei, in der Erinnerung "Bei den Menschen" lacht er über sich
selbst - "Scherzando-Form" - und beschließt, ein neues Leben
zu beginnen - Cello Kadenz!
8. Szene "Bei dem Fährmann":
Siddhartha trifft am Fluß den alten Fährmann wieder, der
ihn schon als Samana über den Fluß gesetzt hat und beschließt,
in dessen Dienst einzutreten. Der Fährmann erklärt ihm,
daß er alle Antworten auf Lebensfragen vom Fluß lernen kann.
Siddhartha hört dem Fährmann und dem Fluß aufmerksam zu
- daher ist diese Szene ohne Cello komponiert, die Achtelbewegungen
im Klavier stellen ein Flußlied - die Wellen charakterisierend -
dar. Diese Szene ist mit Absicht in tiefen Oktavlagen geschrieben, da aus
der Tiefe des Flusses, aus unserer innersten Tiefe, nur die "Erleuchtung"
kommen kann.
9. Szene "OM":
Durch die Sprache des Flusses und durch sein einfaches Leben beim Fährmann
findet Siddhartha - vor dem Hintergrund seiner Lebenserfahrung - endlich
zu sich und dem "OM" - er wird ein "Erleuchteter", ein "Buddha".
Die musikalische Entsprechung ist ein melodisches, reines "CIS-DUR"
im ruhigen, gelassenen Tempo. Die letzten Takte sind in hoher Oktavlage
gesetzt, um - aus der Tiefe der Erkenntnis im Flußlied zur Höhe
der Erleuchtung zu gelangen.
Drensteinfurt, 4. Januar 2002
Matthias Bonitz