©HHP 10/13/00 GG
[Wunder der Liebe - Liebesgedichte. insel taschenbuch it 1958, Frankfurt: Insel, 1997, Umschlag: Michael Hagemann]

Nachwort von Volker Michels

(zu Hermann Hesse – Wunder der Liebe – Liebesgedichte)

Copyright © Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1997


Fast jedes zehnte Gedicht Hermann Hesses ist ein Liebesgedicht.  Die meisten stammen aus dem Zeitraum zwischen seinem fünfzehnten und fünfundfünfzigsten Lebensjahr.  Erstmals werden sie hier in einem Einzelband zusammengefaßt, der diese beinah ausnahmslos gereimten und bis auf den heutigen Tag von zahllosen Komponisten vertonten Lieder in der zeitlichen Abfolge ihrer Entstehung überliefert.
Im Februar 1922 hatte der Redakteur der Zeitschrift Simplicissimus., Hesses langjähriger Münchner Freund Reinhold Geheeb, dem Dichter für die Zusendung einer Folge neuer Verse gedankt, die ihm ungewöhnlich lebensnah vorgekommen seien.  Hesses lakonische Antwort darauf ist charakteristisch.  Sie lautete: “Wie Du vermutest, habe ich jene Liebeslieder natürlich nicht der Literatur wegen gemacht.”  Das trifft keineswegs nur auf seine Liebesgedichte zu, sondern auf alles, was dieser Autor geschrieben hat. Denn l’art pour l’art konnte er sich nicht leisten.
Zunächst ganz unbekümmert um die Maßstäbe von Kunst und Konvention, sind Hesses Dichtungen von einem Bedürfnis diktiert und an eine Funktion gebunden, sei es als Mitteilung, als Klärung der eigenen Lage oder als Rechtfertigung einer sich oft schmerzvoll von den Spielregeln bürgerlicher Normen abhebenden Eigenart.  Und weil kein Lebensbereich sich über diese Spielregeln auf so anarchische Weise hinwegsetzt wie die Liebe, die meist unbekümmert um den gesellschaftlichen Status, das Urteil der Mitmenschen, um Eigennutz, Alter oder Zweckmäßigkeit ihr Ziel verfolgt, ist sie wohl keiner Disposition so wahlverwandt wie der des Künstlers mit seiner unbefangenen und auf die Befreiung von allen Fesseln bedachten Weltsicht.  Als kreativster Antrieb des Lebens ist die Liebe ein so elementares wie unerschöpfliches Thema.  Doch meist nur dort, wo sich das Leben der Liebe entgegenstellt, sublimiert sie an diesem Widerstand zur Kunst.  Denn wie jede Sehnsucht, die unerfüllbar scheint, drängt sie nach Ausdruck: “Und in Liedern verblutet / Statt in Liebesarmen mein Herz”, heißt es in einem Gedicht Hermann Hesses, dem er bezeichnenderweise den Titel Der Dichter gegeben hat.

Mit dem Minnesang beginnt die Gcschichte der europaischen Lyrik, und wie bei sehr vielen seiner Vorläufer waren auch bei Hesse die frühesten Verse Liebesgedichte, ob sie nun um eine Maria oder Gertrud kreisen, denen er seine erste Veröffentlichung Romantische Lieder (1899) gewidmet hat, oder um Jugendlieben wie Eugenie Kolb, Julie Hellmann, Helene Voigt, Elisabeth La Roche und seine erste Frau Mia.  Sie enthalten alle Themen, die einen Verliebten beflügeln und ihm zu schaffen machen: Flirt, Mutwille, Sehnsucht, Verzweiflung, Eifersucht, Ungeduld, Leidenschaft, Bedürfnis nach Nähe, Glück und Trauer über die Vergänglichkeit jeder Erfüllung.  Und alle diese Stimmungen, Depressionen wie Hohenflüge, finden nicht nur in der inhaltlichen Aussage, sondern fast suggestiver noch im Rhythmus und der Melodik von Hesses Versen den ihnen eigenen, natürlichsten Ausdruck.

In Peter Camenzind, dem ersten Roman des damals Fünfundzwanzigjährigen, der das schöne, an die unerreichbare Elisabeth La Roche gerichtete Gedicht “Wie eine weiße Wolke” enthält, hat Hesse ein Grundmotiv seiner frühen Liebesgedichte festgehalten: “Für mich ist die Liebe zu Frauen immer ein reinigendes Anbeten gewesen, eine steile Flamme, meiner Trübe entlodert … Von der Mutter her verehrte ich die Frauen insgesamt als ein fremdes, schönes und rätselhaftes Geschlecht, das uns durch seine angeborene Schönheit und Einheitlichkeit des Wesens überlegen ist und das wir heilig halten müssen, weil es gleich Sternen und blauen Berghöhen uns ferne ist und Gott näher zu sein scheint.”  Obwohl “das rauhe Leben”, wie er ernüchtert fortfährt, “seinen reichlichen Senf dazu gab”, möchte er sich diesen Auftrieb erhalten.  Weil er sich angesichts der als vollkommen empfundenen Ausstrahlung der Geliebten meist minderwertig vorkommt, wird ihm die Liebe zum Ansporn, sich zu einer wertvolleren Persönlichkeit zu steigern, um sich auch seinerseits dieser Vollkommenheit würdig erweisen zu können.

Sich die Liebe als Quelle inneren Wachstums zu bewahren und wo sie sich nicht festhalten läßt  immer wieder neu zu erobem, ist Hesse vor allem deshalb ein Bedürfnis, weil ihm nur dann jene Aufgeschlossenheit möglich ist, wie sie das Gedicht Nächtlicher Weg zum Ausdruck bringt: “Aller Welt bin ich verbunden / Allem Leben aufgetan / Habe neu die Bahn gefunden, / Die mich hält im Weltenplan.”  Was er als Mensch und als Dichter zu erreichen hofft, ist Einklang mit der kosmischen Ordnung.  Teilhabe am organischen Wachstum der Natur, die sich dank der Liebe stets erneuert und in einer kreativen Vielfalt verschwendet, die dem Ausdruckstrieb des Künstlers verwandt ist: “Du in meinem Blute innen / Liebe du, was soll dein Trãumen? / Willst ja nicht in Tropfen rinnen, / Willst in Strömen, willst in Fluten / Dich vergeuden, dich verschäumen.” (Nelke)

Selten, viel zu selten ist diese Intensität möglich.  Darum formuliert Hesse in der Wunschform des Konjunktiv, was in der Wirklichkeit leider oft die ersehnte Ausnahme bleibt: “Auch wär ich gern ein roter Wein / Und flösse süß durch deinen Mund / Und ganz und gar in dich hinein / Und machte dich und mich gesund.”  Zwischen den fast unvereinbaren Polen seiner Sehnsucht, in der Liebe Halt und Heimat zu finden, und dem Bedürfnis, sich mit ihrer Hilfe immer neu verwandeln zu können, bewegen sich seine Verse.

Daß “Phantasie und Einfühlungsvermögen nichts anderes sind als Formen der Liebe”, ist ein weiteres Motiv in Hesses Gedichten.  Ein anderes ist seine Furcht vor Stagnation und Gewohnheit, weil sie zufrieden und unproduktiv machen: “Kein Abschied, kein Blitz und Donner ist der Liebe so schädlich, wie ein totes gelähmtes Zusammensein.  Aus dem besteht die Hälfte aller Ehen”, notiert er in einem an Ruth Wenger gerichteten Brief vom Dezember 1922.

Obwohl dreimal verheiratet, war bezeichnenderweise nie er selbst es, der diese bürgerliche Bindung angestrebt hatte.  Künstler, vermerkt er, seien zwar oft feurige Liebhaber, aber keine guten Ehemänner: “Denn der Künstler lebt in erster Linie für sein Werk.  Er hat nicht mehr Liebe zu geben als ein anderer, sondern eher weniger, da die Arbeit an seinem Werk so viel davon erfordert.”  Dies sei der Gott, dem er diene.  Er sei eifersüchtig wie Jehova und dulde keine anderen Götter neben sich.

Oft hat man bei der Lektüre von Hesses Liebesgedichten den Eindruck, daß er um sich die Liebe als produktiven Antrieb zu erhalten  ein zeitlebens Werbender geblieben ist, ein Unsteter, der noch als Fünfzigjähriger von sich sagt: “Viele Frauen hab ich gekannt, viele mit Schmerzen geliebt” (Einem Mädchen).  Aber mittlerweile sind es Schmerzen, die nicht mehr wie in den Jugendgedichten der Unerreichbarkeit der Geliebten, sondern der Erfahrung entspringen: “O Fluch, daß kein Besitz mich kann beglücken, / Daß jede Wirklichkeit den Traum vernichtet, / Den ich von ihr im Werben mir gedichtet / Und der so selig klang, so voll Entzücken!”  Denn es gibt für ihn “keinen immerwährenden Traum, jeden löst ein neuer ab, und keinen darf man festhalten wollen”.

In dauerhafter Zweisamkeit Erfüllung zu finden war Hesse bis weit in seine dritte Ehe hinein auch darum so selten möglich, weil für den Künstler die Zweisamkeit nur um den Preis eines hohen Maßes an Einsamkeit erträglich ist.  Er betrachtet die Liebe nicht als sein Eigentum, sondern als Allgemeinbesitz, sobald sie fruchtbar wird im Werk.  So kann ihn auch keine Erfüllung befriedigen und selbstgenügsam machen, sondern es drängt ihn, Abstand zu nehmen, um sie produktiv werden und andere daran teilhaben zu lassen: “Von manchem Lager stand ich auf voll Leid / Und jede Sättigung ward Überdruß; / Ich sehnte glühend fort mich vom Genuß / Nach Traum, nach Sehnsucht und nach Einsamkeit.” (Verführer)

Die wohl schönsten seiner Liebesgedichte schrieb er als Vierzigjähriger vor seiner Ehe mit der zwei Jahrzehnte jüngeren Sängerin Ruth Wenger.  Die aufwühlendsten und sinnlichsten Verse jedoch stammen aus den Jahren danach.  Es sind die Krisis-Gedichte des Steppenwolf, der als Fünfzigjähriger Tanzstunden und Maskenbälle besucht und sich wie nie zuvor in seinem Leber dem Rausch der Sinne überläßt.  Erst jetzt wird die Erotik für den Theologensohn Hesse zu einer Welt, die keine Erbsünde mehr kennt.  Und was er schon in seiner Novelle Klein und Wagner vorweggenommen hatte, beginnt er nun auszuleben: “Es gab keine Frau, ohne die man nicht leben konnte  und es gab auch keine Frau, mit der man nicht hätte leben können.”  Die idealisierende ::Überhohung der Geliebten in seinen Jugendgedichten macht im Lauf der Jahre einer erfahrenen Aufgeschlossenheit Platz, die sich gelassen und dankbar am Glück des Augenblicks erfreut: “Seid willkommen, kurze Liebesfeuer / Seid geküßt ihr Augen braun und blau / Spiel der Werbung, buntes Abenteuer / Sei willkommen, ewige Mutter Frau.”

In der Frau als ewiger Mutter ist der Geschlechterkampf aufgehoben.  Ohne daß sie dabei für Hesse an Reiz und Lockung verliert, kommt es mit zunehmendem Alter zu einem Ausgleich der polaren Spannung, wie in den an seine dritte Frau Ninon gerichteten Versen: “Daß du in dem Getriebe / Des Lebens eine Mitte weißt / Macht dich und deine Liebe / Für mich zum guten Geist.”

Die vorliegende Auswahledition enthält etwa zwei Drittel aller Liebesgedichte Hermann Hesses.  Über die vom Verfasser selbst in den Sammelband Die Gedichte aufgenommene Lyrik hinaus bringt unser Themenband 18 weitere Gedichte.  Vier davon stammen aus der 1902 in der Grote’schen Verlagsbuchhandlung, Berlin erschienenen Ausgabe Gedichte (Ich soll dir Lieder singen / Einem Unzufriedenen / La belle qui veut … / Erinnerung), zwei aus dem 1928 bei S. Fischer in Berlin erschienenen Band Krisis (Fest am Samstagabend / Der Wüstling).  Zwölf weitere, nicht weniger charakteristische Gedichte fanden sich in Hermann Hesses Nachlaß (Liebeslied / Ins Album / Drüben / Aus “Hermann Lauscher” / Neue Liebe / Mai / Liebeslied / Einen Sommer lang / Sommers Ende (1907) / Wiedersehen / Abend im April / Lied an die Geliebte im kalten Frühling).

In seiner chronologischen Anlage versucht dieser Band eine sich über vier Jahrzehnte erstreckende Entwicklung überschaubar zu machen.  Sie umfaßt alle Höhen und Tiefen, die dieses Thema ausmachen.  Selten ist in der Lyrik des 20. Jahrhunderts das unerschöpfliche Spektrum der Liebe noch einmal so vielfarbig und volksliedhaft-unverstiegen Melodie geworden wie in Hermann Hesses Gedichten.

Frankfurt am Main im September 1996

Volker Michels